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Buchbesprechung Franklin Veaux und Eve Rickert: More than Two

August 16th, 2016

Buchvorstellung:

More than Two: A Practical Guide to Ethical Polyamory

von Franklin Veaux und Eve Rickert

  • Taschenbuch: 480 Seiten
  • Verlag: Thorntree Press (September 2014)
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-13: 978-0991399727 (ePub)
  • ISBN-10: 0991399706 (softcover)
  • ISBN-13: 978-0991399703 (softcover)
  • Größe: 15,2 x 2,8 x 22,9 cm

Dies ist ausnahmsweise eine Leseempfehlung für ein englischsprachiges Buch. Und zwar weil es das noch nicht auf Deutsch gibt und es mit Abstand das beste Buch über Polyamorie ist, das ich kenne. Eine deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung, aber man sollte nicht darauf warten.

Wenn man noch nie ein Buch über Polyamorie gelesen hast, dann ist dieses die beste Wahl. Und selbst wenn man bereits jedes Buch über Polyamorie gelesen hat ist dieses auf jeden Fall die beste Wahl für die nächste Lektüre!

Ultrakurzbeschreibung:

Ein praktischer Leitfaden für verantwortungsvolle Polyamorie, der an vielen Stellen dort einsteigt, wo „Schlampen mit Moral“ endet. Ein absolut bodenständiges und extrem umfangreiches Werk, das alle relevanten Themen in der Breite und Tiefe darlegt.

Kurzbeschreibung:

Die Partner, Autoren und praktizierenden Polyamoren Franklin Veaux und Eve Rickert haben ein langerwartetes, thematisch breit aufgestelltes Werk über die vielschichtigen Themen zur Polyamorie zur Verfügung gestellt. Sie gehen auf die Nuancen ein (es ist nicht dasselbe wie swingen), die Beziehungsmöglichkeiten (passt ein V, ein N oder ein offenes Netzwerk?), die gängigen Irrtümer (erwarte keine wilden Orien und endlosen Sex – aber schließ sie auch nicht aus!) und die Bedingungen (Kommunikation, Transparenz und Vertrauen sind unabdingbar). Die Autoren teilen ihre hart erarbeiteten philosophischen Einsichten ebenso wie ihre Verletzungen und Niederlagen.

Das neue Standardwerk ist mit langjähriger Erfahrung und lebendig geschrieben und vermittelt die Grundlagen einvernehmlicher, verantwortungsvoller und aufmerksamer Mehrfachbeziehungen fundiert und praxisnah.

Rezension von Cloudy:

Franklin Veaux ist einer der besonders bunten Hunde unter den US-Amerikanischen Poly-Aktivisten und ich lese seinen Blog Xeromag.com schon seit etlichen Jahren. Er lohnt sich. Ein paar seiner Artikel habe ich in den letzten Jahren hier übersetzt, weil ich sie so nützlich fand.

Ich war daher sehr gespannt auf sein Buch, das während der Crowdfunding-Kampagnen Phase als „Best of Xeromag“ angekündigt wurde, und ich wurde nicht enttäuscht: Es lohnt sich, sogar sehr. Und das auch, weil es letztlich etwas ganz anderes geworden ist als eine Zusammenfassung des Blogs: Es ist eine sehr strukturierte, sehr umfangreiche Abhandlung in praktischer Beziehungsphilosophie… und das meine ich nicht als Abschreckung. Eves Einfluss auf das Buch war immens, Franklins extrem technisch-sachlichen Darlegungen sind durch ihre einfühlsam-psychologischen Ansätze sehr bereichert und auf einer menschlichen Ebene wesentlich besser verständlich geworden, so dass ein wirklich leicht lesbares und dabei erschlagend überzeugendes Werk entstanden ist, bei dem man so ziemlich auf jeder Seite selbst bei lautloser Lektüre aus tiefem Herzen „Fuck, yeah!“ rufen muss.

(Außerdem hat Eve durchgesetzt, dass an vielen Stellen ein persönliches Erlebnis erzählt wird, das den Punkt illustriert, der gerade im Text behandelt wird. Für viele Menschen macht das den Inhalt der Kapitel tatsächlich anschaulicher und leichter zugänglich.)

Ich habe schon sehr viele Bücher über Polyamorie gelesen – unter den deutschsprachigen vermutlich tatsächlich alle – sowohl Ratgeber als auch andere Formate. Falls es Euch interessiert: Eine umfangreiche Bücherliste (mitsamt meinen Rezensionen) befindet sich im Beziehungsgarten.

Leider gibt es bisher noch keine deutsche Übersetzung; man hört, dass ein österreichischer Verlag die Rechte gekauft habe, aber es ist noch kein Publikationstermin in Umlauf – daher kann ich es momentan nur für Menschen mit ausreichenden Englischkenntnissen empfehlen, aber dies möchte ich mit Nachdruck tun! Es ist nicht schwer geschrieben, mit einem kleinen bisschen Hilfe aus dem Wörterbuch kommt man mit Schulenglischkenntnissen ziemlich gut klar.

Franklin und Eve verwenden eine leicht verständliche, klare, bodenständige und weltanschaulich neutrale Sprache, gut strukturierte Sätze und kommen ohne wichtigtuerische Wortschöpfungen aus, die in einigen Polykreisen leider zum guten Ton zu gehören scheinen.

Franklin ist ein ziemlicher Nerd. Er denkt sehr logisch, geht Probleme eher analytisch als emotional an. Seine Art, Zusammenhänge aufzuzeigen ist äußerst einleuchtend und ich habe mich beim Lesen oft erwischt, wie ich dachte: „Ja na klar, genau so. Total offensichtlich! Warum ist mir das nie aufgefallen?“

Das Buch ist extrem praxisorientiert, d.h. das alltägliche Beziehungsleben mit seinen substanziellen und marginalen Problemen steht im Fokus – diese Probleme werden jedoch nicht als zufällige oder singuläre Ereignisse inszeniert, mit denen niemand hätte rechnen können, sondern sie werden in den Sinnzusammenhang der jeweiligen Beziehungslogik gesetzt, also die strukturellen Gründe aufgezeigt, warum bestimmte emotionale und gedankliche Konstellation entstehen und sich verfestigen, die bestimmte Probleme zur Folge haben.

Im Buch wird aber erfreulicherweise nicht eine alles erklärende Philosophie oder heilbringende esoterische Betrachtung verkauft, keine lebensuntauglichen Idealvorstellungen, nach denen man sich doch bitte voller Schuldgefühle über die eigene Unzulänglichkeit auszurichten habe, keine spirituellen Erkenntnisse, ohne die man leider im Dunkel der ewigen Unerleuchtetheit vor sich hinsiechen muss. Franklin und Eve erklären ihre Ethik ganz unverblümt, und begründen sie sehr rational, halten sich im Buch aber durchgehend mit Bewertungen und Urteilen zurück, was ich sehr angenehm finde.

Franklin und Eve vertreten insbesondere egalitäre, offene Beziehungen, also nicht-hierarchische Beziehungen mit sexueller Freizügigkeit bzw individueller sexueller Selbstbestimmung, was sicher nicht jederfraus Sache ist, aber auch hier begründen sie sehr gut warum sie dieses Modell für besonders sinnvoll halten und welche Probleme man sich mit anderen Ansätzen einhandelt. Außerdem legen sie einen Schwerpunkt auf langfristige (viele Jahre andauernde) Beziehungen, was ich ebenfalls sehr angenehm finde, weil es dadurch oft dort fortführt, wo „Schlampen mit Moral“ aufhört. Es geht also nicht zentral um sexuelle Befreiung und den Mut zum Ja, sondern um ethische Grundlagen für das konstruktive Denken und Handeln in langfristigen, guten Beziehungen, die das Leben bereichern und das Übernehmen von Verantwortung zu einer durchweg positiven Option machen.

Es gibt im Buch „nur“ 2 Kapitel über Sex, eines über übertragbare Krankheiten, und eines über die anderen physischen, psychologischen und emotionalen Risiken, die Sex mit sich bringen kann. Hier gibt es schon relativ konkrete Beschreibungen von sexuellen Handlungen, aber keine pornographischen oder verstörenden Stellen, es ist alles sehr sachlich und wie ich finde eher Biologiebuchartig, also sehr informativ (und zwar wirklich!) und auf vielfältige Aspekte eingehend, die in gewöhnlichen Ratgebern oft nicht so richtig klar auf den Tisch kommen.

Natürlich kommt Sex aber irgendwie auch in allen anderen Kapiteln gelegentlich vor. Und dass es Dinge wie BDSM, sexuelle Minderheiten und andere merkwürdige Dinge gibt. Ich fand keine davon Triggerwarnungswürdig – ich war allerdings beeindruckt davon wie oft ich Leute dabei beobachtet habe, wie sie während der Lektüre der psychologischen Analysen diverser emotionaler Ausnahmezustände weinerlich wurden… weil diese so messerscharf und unbarmherzig sind, dass man sich manchmal sehr ertappt und ganz erstaunlich unfähig fühlt. Emotionaler Missbrauch wird zB erfreulich umfangreich angesprochen, was ich noch in keinem anderen Poly-Buch zufriedenstellen behandelt gefunden habe. Zum Trost kann ich aber hinzufügen, dass das Buch durchweg optimistisch, ermutigend und unterstützend ist und aus jedem Problem letztlich eine Fülle von Auswegen aufgezeigt werden.

Besonders interessant finde ich, dass die Perspektive auf Liebe und Beziehungen nicht so radikal eingeschränkt wird wie in den üblichen paarzentrierten Hetenratgebern. Ich habe mich mit vielen Menschen über das Buch unterhalten, die einen völlig anderen Lebensstil praktizieren, und alle fühlten sich von diesem Buch extrem angesprochen. Ja, es gibt im Buch durchaus viele Hinweise für Menschen, die sich ein paarzentriertes Leben wünschen, und viele Themen kreisen um „intimate romantic relationships“, also romantische Liebesbeziehungen im mehr oder weniger herkömmlichen, konservativen Sinne (bis auf die sexuelle Nicht-Exklusivität jedenfalls); aber es wird auch immer wieder auf Solo-Polys, Asexuelle und Beziehungsanarchisten eingegangen – und eine Heteronormierung findet auch nicht statt.

In den meisten Sätzen ist die nicht spezifizierte Beispiel-Person übrigens eine „she“, und zwar in absolut allen Rollen, was mir ganz positiv aufgefallen ist.

Auch sonst ist das Buch erfreulich feministisch: Es findet an keiner Stelle eine Unterteilung in „Menschen“ und „Frauen“ statt, für die dann verschiedene Verhaltensregeln ausgesprochen werden – was leider in vielen Ratgebern eine Art Grundverständnis der Welt darzustellen scheint. Und die Kapitel zu Hierarchien und Empowerment geben ganz unaufgeregt den relevanten modernen feministischen Diskurs wieder, ohne sich dabei nur auf weiblich gelesene Menschen zu beziehen, was ich persönlich sehr gut finde, denn dadurch kann jedermensch, der sich mit diesen Themen noch nie befasst hat, einen sinnvollen Einstieg finden, ohne sich permanent angefeindet und angegriffen zu fühlen.

Tatsächlich ist Vieles im Buch auch ganz jenseits von Poly-Beziehungen und sogar jenseits von Liebesbeziehungen allgemein sehr nützlich und hilfreich. Es gibt große Blöcke über Kommunikation und faires Verhandeln, die man wirklich in jedem „Menschenratgeber“ gut gebrauchen könnte.

Tja, und jetzt zu den Nachteilen.

Leider ist das Buch wirklich dick, 480 Seiten voller Buchstaben lauern zwischen den Buchdeckeln, und nein, es gibt keine Bilder! 🙂

Man hat also ordentlich was zu tun, wenn man sich da durchkämpfen will. Es gibt aber auch eine Audiofassung, wenn man sowas mag.

Während der erste Teil recht straff ist und ich mir ziemlich oft kleine Denkpausen gönnen musste um mit der geballten Masse an Inhalt klarzukommen, wiederholt sich später sehr viel. Auf diese Art soll wahrscheinlich immer besser und ausführlicher erklärt und argumentiert werden; ich war aber schon beim ersten Mal voll im Boot und kam mir dann manchmal ein bisschen so vor als würde ich grad versehentlich den Stoff aus dem letzten Schuljahr wiederholen…. Also sich kurz zu fassen ist ganz klar nicht Franklins Superkraft, aber ich hab auch schon von etlichen Menschen gehört dass sie das ganz gut fanden weil sie es so besser verdauen konnten.

In diesem Sinne wünsche ich einen guten Appetit, viel Vergnügen und große Erkenntnisse bei der Lektüre!

(Diese Rezension ist zuerst erschienen in der Krake 10, dem  großartigen Magazin für Frauen in unordentlichen Beziehungen, zu beziehen über Gwendolin unter polylogo@gmx.de, Infos auf http://diepolytanten.hostzi.com)

Rezension von Juli Sonne:

Da es das Buch leider nur auf englisch gibt, hier mal eine andere Art einer überwiegend deutschen Zusammenfassung:

More than two – A Practical Guide to Ethical Polyamory

Worum es geht in drei Sätzen: Das Autorenpaar erläutert in diesem Klassiker die Grundlagen für Polyamorie und gibt Empfehlungen für den Umgang mit den normalen und neuen Beziehungsherausforderungen, die sie mit sich bringt. Mit den beiden Axiome, dass Menschen wichtiger sind als ihre Beziehungen untereinander und Menschen keine Dinge sind, entwickeln sie die Grundlagen für ethische Beziehungen: Transparenz, Einvernehmen und Entscheidungsfähigkeit aller Beteiligten. Es folgen viele Kapitel zu Kommunikation und besonderen Herausforderungen, immer zurückgeführt auf die Grundlagen und angereichert mit lebendigen Beispielgeschichten.

Was neu für mich war: Ich habe endlich verstanden, warum bzw. wann Hierarchien in der Polyamorie als problematisch betrachtet werden und wie genau die Unterschiede zwischen Grenzen, Regeln und Vereinbarungen Sinn machen.

Was mich störte: Für mich viel Wiederholung besonders in den ersten Kapiteln, aber auch insgesamt sehr lang und auf Englisch fällt mir Querlesen schwerer.

Wem ich es empfehlen würde: Allen, die Lust haben in oder besonders jenseits der üblichen Mono-Normativität ihre Beziehungen so weiterzuentwickeln, dass sie selbst und ihre Partner*innen größtmögliche Chancen haben, ihr bestmögliches Ich zu leben.

 

  (Zeichnung von Juli Sonne)

Links:

Rezensionen bei Amazon (überwiegend deutsch), von Solopoly.net (englisch)

Leseprobe bei Amazon

Homepage der Autoren

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Polyamorie ohne Regeln? Ist das nicht Anarchie und Chaos?

Februar 27th, 2015

Übersetzung des englischsprachigen ArtikelsPolyamory without rules? Isn’t that anarchy and chaos?

von Franklin Veaux

Übertragen von Cloudy mit Unterstützung von Emme, hko, Mair und Lilli100

Polyamorie ohne Regeln? Ist das nicht Anarchie und Chaos?

Ich bin generell kein Fan von regelbasierten Beziehungen, und insbesondere nicht in der Polyamorie. Ich habe festgestellt, dass meine Beziehungen üblicherweise am besten funktionieren, wenn sie nicht von einem Vorschriftenkatalog geregelt werden, der jeden Bürokraten erröten lassen würde.

Wenn ich das sage, schauen mich die Poly-Leute oft an, als wäre mir ein zusätzlicher Kopf gewachsen und fragen: „Wie kann man eine Beziehung ohne Regeln führen? Ich meine, sicher, das ist alles schön und gut, wenn man nur Anarchie will, wo jeder nur tut, was er will, ohne Verpflichtungen, aber echte Beziehungen kann man so nicht aufbauen!“

Worüber ich mich ein bisschen wundere, weil es ziemlich ähnlich klingt wie das, was monoamore Menschen bisweilen zu polyamoren sagen: „Wie kann man eine Beziehung ohne Exklusivität führen? Ich meine, sicher, das ist alles schön und gut, wenn man nur Anarchie will, wo jeder herumvögelt, mit wem er will, ohne Verpflichtungen, aber echte Beziehungen kann man so nicht aufbauen!“

Ich denke, dass es eine ganz normale menschliche Eigenschaft ist, die Welt in Gegensätzen zu sehen: Wenn die Beziehung nicht exklusiv ist, dann bedeutet das Promiskuität und wahlloses Herumvögeln; wenn es keine Regeln gibt, dann bedeutet das Anarchie und Chaos. Aber das ist nicht wirklich der Fall.

Wie meinst du das, das ist nicht wirklich der Fall? Mit Regeln setzen wir unsere Grenzen. Ohne Regeln gibt es nichts, was die Menschen davon abhalten könnte, rücksichtslos über unsere Wünsche hinwegzugehen!

Ich sehe einen großen Unterschied zwischen „Regeln“ und „Grenzen“. Eine Regel ist für mich etwas, das eine Person einer anderen auferlegt. „Ich verbiete dir, ungeschützten Sex mit jemand anderem zu haben“ wäre ein einfaches Beispiel. Es ist eine Absichtserklärung, mit der ich die Kontrolle über die Handlungen eines anderen erlangen möchte.

Grenzen sind Beschränkungen, die wir uns selbst setzen. „Um meine sexuelle Gesundheit zu schützen, behalte ich mir das Recht vor, den Geschlechtsverkehr mit dir einzustellen, wenn du mit einer anderen Person ungeschützten Sex hast“ wäre ein Beispiel dafür.

Regeln und Grenzen können das gleiche Ergebnis haben, aber sie sind sehr unterschiedlich in ihrer Philosophie. Für mich ist der Hauptunterschied der Ort der Kontrolle. Mit Regeln gewinne ich die Kontrolle über dich. Ich sage dir, was du tun musst oder schreibe dir vor, was du auf keinen Fall tun darfst. Mit Grenzen lege ich dar, wie sich deine Entscheidungen auf mich auswirken, ohne dass ich diese Entscheidungen vorwegnehme, und überlasse es dir, deine Entscheidungen entsprechend zu treffen.

Aber wie kann ich ohne Regeln sicherstellen, dass mein Partner sich so verhalten wird, dass ich mich sicher fühle?

Kannst du nicht. Mit oder ohne Regeln, das kannst du nicht. Menschen können immer ihre eigenen Entscheidungen treffen. Regeln – wie jeder, der mal betrogen wurde, weiß – sind nur wirksam, wenn das Gegenüber sich auch an sie hält, was bedeutet, Regeln sind nur so gut wie die Absicht der Person, der sie auferlegt sind.

Wenn jemand dich liebt und schätzt, und gut mit dir umgehen will, dann ist es nicht notwendig zu sagen: „Ich verbiete dir, dies und jenes tun“ oder „Ich verlange, dass du dies und jenes tust“. Alles, was du wirklich tun musst, ist zu kommunizieren, was du brauchst, um dich umsorgt zu fühlen, und dein Partner wird freiwillig etwas dafür tun, auch ohne dazu gedrängt zu werden.

Auf der anderen Seite, wenn dein Partner dich nicht liebt und schätzt und nicht gut mit dir umgehen will … Nun ja, dann kann dich keine Regel retten. Die Regeln können dir eine Illusion von Sicherheit geben, aber sie werden dich nicht wirklich schützen.

Na und? Reicht es nicht, dass ich mich mit einer Regel besser fühle? Was ist daran falsch?

Ich glaube, dass Regeln versteckte Kosten haben, die in Poly-Kreisen nicht oft diskutiert werden: die Wirkung, die diese Regeln auf andere Menschen haben.

Menschen in polyamoren Beziehungen – vor allem solche, die die Polyamorie gerade erst für sich entdecken– scheinen oft die Idee zu verfolgen, dass die Beziehung erfolgreich ist, solange das ursprüngliche Paar überlebt, ganz gleich was passiert und unabhängig von den Gefühlen derer, die mit einem oder beiden der ursprünglichen Partner liiert sind. Aus diesem Grund werden die Regeln nur zwischen den ursprünglichen Partnern ausgehandelt. Andere Menschen können nur wenig oder keinen Einfluss darauf nehmen und das Paar bedenkt auch nicht die Auswirkungen dieser Regeln auf andere.

Aus diesem Grund wird kaum zur Kenntnis genommen, dass jede Regel, die Person A verbietet, X zu tun, möglicherweise eine Regel ist, die den neu hinzugekommenen Menschen C von Aktivität X ausschließt. Man sieht dies am deutlichsten an Regeln wie „Ich verbiete dir, mit neuen Partnern Sex in der Affe-mit-Lotusblüte-und-Kettensäge-Position zu haben, denn das ist meine Lieblingsposition“ oder „Ich verbiete dir, mit anderen Verabredungen in Munolfs Muschelrestaurant zu gehen, denn das ist das Restaurant, in dem wir unser erstes Date hatten“ oder „Ich verbiete dir, bei einem Partner zu übernachten, weil ich nie ohne dich schlafen müssen will.“

Jede dieser Regeln wurde aufgestellt ohne einen Gedanken an den Preis, den sie für eine dritte Person haben wird. Was, wenn eine neue Person zufällig ziemlich begeistert von der Affe-mit-Lotusblüte-und-Kettensäge-Position oder Munolfs Muschelrestaurant ist? Warum sollte die neue Person dazu gezwungen werden, immer darauf verzichten müssen, mit ihrem Partner zu übernachten, nur weil Person A nie darauf verzichten will?

Weil es ist, wie es ist! Warum sollte irgendjemand Neues über meinen Bedürfnissen stehen und einfach über mich hinweggehen? Warum sollte jemand Neues nicht meine Bedürfnisse respektieren?

Aha. Damit kommen wir also zum Kern der Sache. Menschen stellen Regeln auf, weil sie das Gefühl haben, dass solche Regeln notwendig wären, damit ihre Bedürfnisse erfüllt werden. Regeln werden nicht zufällig aufgestellt. Ich habe noch keinen Menschen getroffen, der Regeln mittels eines Würfels oder durch das Ziehen von Buchstaben aus einem Hut ausgewählt hat.

Wann immer jemand eine Regel vorschlägt, stelle ich mir gewohnheitsmäßig drei Fragen:

  1. Was ist das Ziel dieser Regel?
  2. Dient die Regel dem Ziel, dem sie dienen soll?
  3. Ist diese Regel die einzige Möglichkeit, um dieses Ziel zu erreichen?

Ich kann nicht genug betonen, wie wertvoll es ist, darüber nachzudenken.

Nach meiner Erfahrung versuchen Menschen oft, mithilfe von Regeln auf indirekte, passive Art, ihre Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Statt das Bedürfnis klar zum Ausdruck zu bringen, wie „Ich habe das Bedürfnis, mich besonders und von dir geschätzt zu fühlen“, überlegen sie , wodurch sie sich besonders und geschätzt fühlen, und stellen dann eine Regel auf, wie: „Ich fordere, dass du dies tust“ oder „Ich verbiete, dass du jenes mit anderen tust“. Unter Polys heißt es immer: „Kommuniziere, kommuniziere, kommuniziere“. Aber für mich erfordert Kommunikation eher die Bereitschaft, schwierige Dinge zu besprechen, wie zum Beispiel die direkten Bedürfnisse, und nicht nur Fragen zweiter Ordnung, wie „Es ist mir wichtig, dir das zu verbieten.“

Nehmen wir ein nicht-hypothetisches Beispiel einer Regel, die ich bei einigen Poly-Menschen in Betrieb gesehen habe: „Ich verbiete dir, mit irgendeiner Verabredung in Munolfs Muschelrestaurant zu gehen.“ Und lasst sie uns anhand dieser drei Fragen überprüfen.

 

  1. Was ist das Ziel dieser Regel?

Wenn Alice zu Bob sagt: „Ich verbiete dir, mit jemand anderem in Munolfs Muschelrestaurant zu gehen“, was sagt sie eigentlich damit? Möglicherweise: „Ich habe das Gefühl, dass mein Wert für dich von einer gewissen Alleinstellung abhängt.“ Oder vielleicht: „Ich habe Angst, dass du, wenn du die Dinge, die du mit mir tust, auch mit jemand anderem tust, mich nicht mehr brauchen wirst und mich verlassen wirst.“ Die Chancen stehen allerdings ziemlich gut, dass Alice beim Aufstellen dieser Regel so überwältigt wird von ihrer Angst, ihre Bedürfnisse könnten nicht erfüllt werden, dass sie nicht einen Gedanken an Cindy verschwendet, der sie jetzt den Genuss von Munolfs Muscheln versagt.

 

  1. Dient die Regel diesem Ziel?

Wenn Alice Recht hat, wenn Bob sie nicht wirklich schätzt und es nichts Besonderes an ihr gibt, dann wird eine Regel nicht sicherstellen, dass Bob Alice nicht verlässt. Wenn Cindy sich als „besser“ (was auch immer das bedeuten mag) als Alice herausstellt, dann ist Bob weg, mit oder ohne Muscheln. Wenn Bob wirklich grundsätzlich KEINEN Wert in Alice sieht, ist die Beziehung zum Scheitern verurteilt, und keine Regel wird sie retten. Mit den Worten „Ich verbiete dir in Munolfs Muschelrestaurant zu gehen“ kann Alice sich – im besten Fall – ein falsches Gefühl der Sicherheit erkaufen, das die zugrunde liegende Angst, verlassen zu werden, maskiert, und verhindert, dass sie sich damit direkt auseinandersetzt.

 

  1. Ist diese Regel der einzige Weg, um dieses Ziel zu erreichen?

Wenn Alice tatsächlich Angst hat, dass Bob sie nicht zu schätzen weiß und sie verlassen wird, wenn er die Dinge, die er mit ihr tut, auch mit einer neuen Verabredung tut, dann scheint es mir, dass Alice besser damit fährt, sich dieser Angst direkt zu stellen und Bob zu bitten, ihr dabei zu helfen, sich von ihm geschätzt zu fühlen. Wahrscheinlich gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie das umgesetzt werden könnte, zum Beispiel indem Bob mehr Mußestunden mit Alice verbringt, oder indem er Alice sagt, was genau er an ihr schätzt, oder indem er sich im Voraus Abende für Alice reserviert – alle möglichen Dinge. Das zugrunde liegende Bedürfnis hat ja überhaupt nichts mit Muscheln zu tun.

 

Na und? Ich war zuerst hier. Warum sollte ein neuer Mensch nicht meine Regeln respektieren, auch wenn es andere Optionen gibt?

„Respekt“ ist ein wenig greifbarer, heikler Begriff. Ein bisschen wie „Freiheit“ – alle denken, dass sie wüssten, was es bedeutet, aber wenn es drauf ankommt, könnten sich nur sehr wenige Menschen auf eine Definition einigen.

Für mich muss Respekt gegenseitig sein. Wenn Alice Respekt von Bobs neuer Flamme Cindy verlangt, kann sie diesen nur bekommen, wenn Alice dafür respektiert, dass Cindy ein erwachsener Mensch mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen ist, und auch sie eine Chance auf Mitsprache in der Beziehung verdient. Anderen Menschen Gebote aufzuzwingen und dann Respekt von diesen Menschen zu fordern, ist (wie ich höre) der letzte Schrei unter den Staatsoberhäuptern von Nordkorea, aber fühlt sich ein bisschen eklig an, wenn wir über romantische Beziehungen reden.

Aber pragmatischer gesehen – weil ich versuche, pragmatisch zu sein – ist die Vorgehesweise, dass eine Person Regeln verhängt, und erwartet, dass eine andere Person diese befolgt, oft zum Scheitern verurteilt. Im besten Fall führt es zu Winkeladvokatentum: „Naja, wir haben nicht wirklich IN Munolfs Muschelrestaurant gegessen, wir haben unsere Muscheln zum Mitnehmen bestellt und sie dann draußen auf der Terrasse gegessen!“

Im schlimmsten Fall wird dadurch das Fundament für eine spannungs- und konfliktreiche Beziehung gelegt. Wenn der Partner des Partners als eine Stressquelle wahrgenommen wird, und man Regeln aufstellt, um das Verhalten dieser anderen Person zu kontrollieren, dann fußt die Beziehung von Beginn an auf einer Grundhaltung von Konfliktfokussierung. Denn es wurde eine Umgebung geschaffen, in der es dem Neuling nie gestattet wird, mit Bob bei Munolf zu essen, und wenn der Neuling den Wunsch hat, sich mit Bob über diese sagenhaft leckeren Muscheln herzumachen, gibt es einen unüberwindbaren Konflikt. Einer der Beteiligten wird seinen Wunsch nicht erfüllt bekommen, und du versuchst, mit dem „Respekt“-Argument deinen Wunsch durchzusetzen.

Durch das direkte Gespräch über Bedürfnisse statt über Regeln – „Ich will mich von Dir geschätzt und besonders fühlen“ – wird ein Rahmen geschaffen, in dem Konkurrenz weniger wahrscheinlich ist. Wenn es darum geht, sich geschätzt und einzigartig zu fühlen, und nicht wirklich um Muscheln, dann lasst die armen Muscheln aus der Sache raus!

Nun gibt es Fälle, die weniger eindeutiger sind als andere. Regeln über Safer-Sex-Praktiken sind in Poly-Beziehungen sehr verbreitet; tatsächlich bin ich sicher, dass Ausnahmen davon ziemlich dünn gesät sind.

Aber auch dort lohnt es sich aufmerksam zu sein. Offene Kommunikation ist wichtig, denn manchmal können auch scheinbar eindeutige Regeln mit vernünftigem, notwendigem Zweck tiefer liegende Probleme verschleiern.

Schauen wir uns die Regel „Kein ungeschützter Sex mit anderen Partnern“ an.

 

  1. Was ist das Ziel dieser Regel?

 

Wenn Alice zu Bob sagt: „Ich will nicht, dass du ungeschützten Sex mit jemand anderem hast“, gibt es wahrscheinlich einen ziemlich guten Grund dafür. Der Zweck dieser Regel ist offensichtlich: Alices Gesundheit sowie die Gesundheit aller mit Alice verbundenen Menschen zu schützen.

 

  1. Dient die Regel diesem Ziel?

 

Ja. Die Daten zu Krankheitsübertragung und Latexbarrieren sind eindeutig.

 

  1. Ist diese Regel der einzige Weg, um dieses Ziel zu erreichen?

 

Oje. Jetzt kommen wir in Schwierigkeiten.

Es gibt andere Möglichkeiten, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Zum Beispiel ist die Strategie effektiv, alle beteiligten Personen testen zu lassen, bevor es ungeschützten Sex mit gibt, in Kombination mit der Strategie, keinen ungeschützten Sex mit Leuten zu haben, die sich nicht vorher testen lassen. Es geht aber gar nicht um Gesundheitsrisiken, wenn die beteiligten Personen von Anfang an keine sexuell übertragbaren Krankheiten haben; die kommen nämlich nicht spontan aus dem Nichts.

Aber manchmal bestehen Leute nicht nur wegen Krankheitsbedenken auf Latexbarrieren, sondern auch aus dem Gefühl heraus, dass es ein Zeichen der Alleinstellung ist, oder weil sie das Gefühl haben, besonders wichtig zu sein, wenn sie der einzige Partner sind, mit dem Körperflüssigkeiten getauscht werden. Und manchmal können Sorgen über sexuell übertragbare Krankheiten ein Vorwand sein, hinter dem sich diese Gefühle verstecken. (Dies ist übrigens kein hypothetisches Beispiel. Es ist in meinem romantischen Netzwerk tatsächlich schon vorgekommen.)

Es erfordert viel Mut, solche Dinge zuzugeben. Offen über das zu sprechen, was wirklich los ist unter der Oberfläche, ist beängstigend und schwer und macht uns verwundbar.

 

Wenn ich Regeln mit meinem Partner aushandele, hat ein Neuling die Wahl, diese Regeln zu akzeptieren oder zu gehen. Also wo ist das Problem?

Ich persönlich finde dieses Argument wirklich ganz besonders grausam.

Zu Beginn einer Beziehung ist es ziemlich unmöglich vorherzusagen, wie weit sie einmal gehen wird oder wie sie genau aussehen wird. Es ist einfach, Regeln zuzustimmen, bevor die Liebe ins Spiel kommt, und dann, später, nachdem man sich verliebt hat, festzustellen, dass man in der Klemme steckt. Die Regeln werden zur Belastung, aber man hat sich bereits auf die Beziehung eingelassen und kann sie nicht ohne großen Liebeskummer wieder verlassen.

Im besten Fall handelt es sich um unbeabsichtigte Grausamkeit von Alice und Bob, aber es ist immer noch grausam. Im schlimmsten Fall ist es ein vorsätzlicher und bewusster Hinweis an Cindy: „Du bist entbehrlich. Hier ist eine Liste der Situationen und Umstände, unter denen wir dich abservieren werden, und du hast kein Mitspracherecht an diese Liste.“ So oder so, Alice und Bob werden am Ende oft versuchen, sich besser zu fühlen, wenn sie Cindy verletzen, indem sie sagen: „Na, sie wusste ja von vorneherein, auf was sie sich eingelassen hat!“

 

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Ich gebe zu, dass die Aussicht, offen über unsere Bedürfnisse zu sprechen, auch wenn es schwierig ist, und Kommunikation anstelle von Regeln zu verwenden, wirklich beängstigend klingt. Wir Polys reden die ganze Zeit darüber, wie wichtig es ist, miteinander zu reden. Es ist umso wichtiger, dass wir es auch wirklich tun. Auch wenn es schwer ist. Vor allem, wenn es schwer ist.

Regeln fühlen sich tröstlich an. Aber leider ist dieses Gefühl oft eine Illusion. Manchmal ist das Loslassen von der Vorstellung, dass Regeln wichtig sind, ein Weg, um Beziehungen auf einem starken Fundament aus Vertrauen und Kommunikation aufzubauen – so beängstigend dass auch klingt.

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Wie man Polyamorie nicht für alle ruiniert in 6 einfachen Schritten

März 9th, 2014

Übersetzung des englischsprachigen Artikels „How to Not Ruin Polyamory for Everybody in 6 Easy Steps

von inurashii

Wie man Polyamorie nicht für alle ruiniert in 6 einfachen Schritten

Ich bin sicher nicht der einzige Mensch, der von der vielen guten Presse begeistert ist, die Polyamorie in letzter Zeit bekommen hat. Ich lese Artikel darüber, was Polyamorie ist, über einige der unzähligen Arten, wie Menschen sie praktizieren, und, ganz neu, darüber, wie man es vermeidet, sich seinen polyamoren Freunden gegenüber wie ein Arschloch zu benehmen. Das ist schön! Ich mag es, wenn die Leute sich mir und den meinen gegenüber nicht wie Arschlöcher benehmen.

Das Problem ist, dass ich auch einen Haufen Beiträge von nicht-polyamoren Menschen lese, in denen sie zum Ausdruck bringen, dass sie – völlig zu Recht – einen schlechten Eindruck von Polyamorie haben. Es geht dabei nicht darum, dass sie sich von Polyamorie bedroht fühlen oder verunsichert wären, so wie sich ein homophober Mensch verhalten würde, wenn er mit der ärgerlichen Tatsache konfrontiert wird, dass homosexuelle Menschen existieren. Es ist eher eine gewöhnliche Verärgerung, ausgelöst durch eine Assoziation von Polyamorie mit selbstgefälliger Ich-bin-erleuchteter-als-du-Effekthascherei.

Dieser schlechte Ruf ist wohlverdient. Ich kenne „diesen unangenehmen Poly“, bin selbst schon mehr als ein Jahrzehnt lang poly und nicht mehr in der Lage, es als eine Art große Sache zu sehen. Ich habe viele wohlmeinende Leute in die Falle tappen sehen, Polyamorie zu einem Thema zu machen, das Mono-Leute eher unter den Teppich kehren würden.

Also, wie vermeidet man es,„dieser unangenehme Poly“ zu sein? Ich bin froh, dass Sie fragen.

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