Gegen die Liebe (1)

Mai 5th, 2011

Ein Text gegen den Mythos der Großen Liebe, gegen die kitschige, romantische, exklusive, heteronormative, in Schubladen gesteckte, besitzergreifende Liebe.

Originaltext: La culture de l’amour von ‘Collectif‘, Ersterscheinung August 2003. Original in HTML-Version, PDF-Version. — Übersetzung aus dem Französischen von Chantilly

Teil 1: Die absurde Einteilung aller Zuneigung und Zärtlichkeit in zwei Begriffe: Liebe und Freundschaft. Dabei gibt’s doch so viel mehr… Und: die Liebe ist ein Gott und der Märchenprinz auf dem weißen Schimmel sein fleischgewordener Sohn.

Die Liebe und ihre Rollenbilder sind keine albernen Banalitäten, die man beiläufig verachten kann, sondern Träger von Leiden und Ausgrenzungen, die man bekämpfen muss…

„Sind sie in einer Liebesbeziehung?“

„Nein, ich würde nicht sagen, dass es Liebe ist. Es ist eher eine zärtliche Freundschaft, eine sexuelle Freundschaft, eine nette Seelenverwandtschaft, ich weiß nicht. Aber deshalb gleich von Liebe zu sprechen… der Begriff ist ein wenig zu bedeutungsschwer.“

„Liebe“ – ein bedeutungsschwerer Begriff, ein bisschen vage, eher schwierig einzugrenzen, relativ zerstörerisch. Man weiß nicht genau, wann man diesen Begriff benützen soll. Sicher nicht irgendwann. Man weiß nicht immer genau was er abdeckt, man fühlt sich ihm gegenüber oft etwas verloren, die einzige Sache die man weiß ist, dass er eine große Bedeutung hat. Man spielt nicht mit diesem Wort.

Nun gut. Vielleicht sollte man also mit Begriffsklärungen beginnen. Also, wenn Menschen Zuneigung verspüren, dann können sie untereinander verschiedene Dinge austauschen, sie können verschiedenartige Zärtlichkeiten austauschen:

Küsschen auf die Wange. Küsse auf den Mund. Küsse auf den Ellenbogen. Küsse woanders. Die Nasen aneinander reiben. Streicheleinheiten. Umarmungen. Einander bei der Hand nehmen oder Arm in Arm laufen. Die Haare anfassen. Nebeneinander schlafen, oder aneinander geschmiegt. Lecken. Blasen. Kitzeleien. Petting. Analverkehr. Und so weiter und so fort. Man wird all das körperliche Zärtlichkeiten nennen. Es scheint üblich zu sein, sie in zwei Gruppen aufzuteilen: die, die sexuellen Genuss bereiten, die man sexuelle Handlungen nennt, und die, die anderen Genuss bereiten, die man Zärtlichkeiten nennt.

Blicke. Lange Gespräche. Komplimente. Gesten der Aufmerksamkeit, des Zuhörens, des Interesses. Zusammen verbrachte Zeit. Zärtliche Worte. Lachanfälle. Sich vielsagende Blicke zuwerfen. Und so weiter und so fort. Das alles ist auch Zärtlichkeit, aber ohne Körperkontakt: Einstellungen, Verhalten, Gespräche…

Wenn man sich an Zärtlichkeiten beteiligt und es gut läuft, so zieht man daraus Dinge, die man emotionale Güter nennt. Angenehme Empfindungen, Freude, Gefühl der Innigkeit, etwas wert zu sein, Gefühl der Vertrautheit, jemandem wichtig zu sein… So wie wenn man greifbare und stapelbare Dinge austauscht, so wie man zwei Geldstücke gegen einen Rasentrimmer eintauscht, da nehme ich einen materiellen Austausch vor und bekomme dafür ein materielles Gut: einen funkelnagelneuen Rasentrimmer. Ich werde meinen Freunden sagen können, dass sie meine Liste materieller Güter anschauen kommen sollen: „Ja, ich hab dieses und ich hab jenes, ich hab eine Fahrradpumpe und einen Rasentrimmer“. Wenn ich wollte, könnte ich nach einer Stunde, die ich mit Philipp verbracht habe, für mich einen Kassensturz meiner emotionalen Güter machen und ich würde feststellen, dass diese eine gemeinsame Stunde mir 25 Gramm sinnliche Freuden im linken großen Zeh gebracht hat und 89 Unzen Vertrautheit. Ich sag nicht, dass man alles so zählen soll, nicht wahr, ich versuche nur, den Wortschatz den ich vorschlage anschaulicher zu gestalten.

Also noch mal, versichern wir uns, dass wir da nichts durcheinanderbringen. Die Zärtlichkeit zwischen Menschen kann eine ganze Reihe von Formen annehmen, eine ganze lange Reihe ganz verschiedener Formen, die voller Feinheiten, Einzigartigkeiten, Kreativität und Tabus ist. Und wenn uns diese Zärtlichkeiten gut tun, dann ziehen wir daraus emotionale Güter. Verstanden? Gut.

Die verschiedenen Kulturen, die die Menschheit prägen, haben alle ihre Art, mit Zärtlichkeit umzugehen. Manche sind verboten, andere toleriert, oder werden in Kategorien eingeteilt, umverteilt, verschlüsselt, aufgezählt, benannt, genormt. Zum Beispiel hat unsere Kultur im Großen und Ganzen zwei Wörter für den Austausch von Zärtlichkeit: „Freundschaft‘ und ‚Liebe‘. Überraschend, nicht wahr? Nur zwei Worte, nur zwei Etiketten für so viele verschiedenen Formen von Zärtlichkeit.

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„Glaubst du, dass es Freundschaft zwischen Mann und Frau geben kann? Was ist der Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe?“

Die Frage ist absurd, schon weil sie davon ausgeht, dass es keine Liebe zwischen Männern und unter Frauen geben kann. Aber gleichzeitig ist sie verräterisch: unser armer Wortschatz bietet uns nur zwei Begriffe an, um über Beziehungen zu sprechen. Man sagt nicht: „Mit X gibt es Küsschen, einander zuhören und Vertrautheit“ oder „mit Y habe ich ein bisschen Sex aber vor allem lachen wir sehr viel zusammen“, man sagt: „Mit X, das ist Liebe“ und „mit dir, das ist nur Freundschaft“. Wir ordnen unsere zwischenmenschlichen Beziehungen in zwei Schubladen ein, die sehr vereinfachend sind. Und diese zwei Schubladen sind nicht mal ausgeglichen, im Gegenteil. „Die Freundschaft“ deckt eine große Bandbreite an Formen der Zuneigung ab. „Die Liebe“ hingegen ist nicht weniger als ein Gipfelpunkt, etwas allumfassendes, Freundschaft mal Hundert, Freundschaft in ihrer extremsten Form. Sie ist gleichzeitig enorm und enorm selten.

„Die Liebe, die Liebe… Was ist das eigentlich?“

Das Etikett „Liebe“ wurde von unserer reichen und fluchbeladenen Kultur im tiefsten Mittelalter erfunden. Eine Dosis Christlichkeit und eine Dosis Minne und hopp! schon war der Mythos der Großen Liebe entstanden, das Idol Liebe, das die Jahrhunderte mit seinem schönen weißen Schimmel überflog, von romantischen Gedichten bis hin zu heutigen Dramen. Ich bin kein Historiker, aber es gibt sicher welche, die die Entstehung und das Wachstum dieses Idols erforscht haben, eines Tages werde ich da mal nachforschen.

„Was ist also die Liebe?“

Die Liebe ist ein Gott. Man geht in völliger Extase zu seinem Abendmahl. Man lauert auf ihn, man ruft ihn um Hilfe, man hofft darauf von seiner Gnade berührt zu werden, man fürchtet seinen Zorn mehr als alles andere. Man verehrt ihn. Man betet nachts im Bett, auf dass er erscheinen möge. Er wird uns erretten. Er ist der einzige, der aus unserem irdischen Weg ein Paradies machen wird. Gleichzeitig verheißt er uns die schlimmsten und heiligsten Schmerzen.

Die Liebe ist eine Art totale Zuneigung. Totalisierend. Totalitär. Die Liebe, das sind alle Formen von Zuneigung auf einmal. Ein Monster, ein Leviathan, eine mehrköpfige Schlange. Es gibt keine teilweise oder nuancierte Zuneigung, sonst ist es „nur“ Freundschaft, oder eine Sex-Affäre, oder brüderliche Zuneigung…

Die Zuneigung vom Typ „Liebe“ ist absolut, absolut enorm und absolut umfassend und soll zudem ganz präzisen Kriterien entsprechen. Sie besteht nur zwischen zwei heterosexuellen Personen. Sie muss unsterblich sein, auf jeden Fall muss sie viele Jahre lang dauern. Sie muss in einer exklusiven Zweierbeziehung stattfinden, verliebt, verlobt verheiratet, Kinder. Den Hund gibt’s optional dazu, das hilft, sich selbst davon zu überzeugen, dass man sich gut fühlt in dieser echten Liebe, mit seiner echten Familie und den echten Klischee-Bildern. Es ist übrigens sehr wichtig, sich regelmäßig zu fragen, ob unsere Liebe „echt“ ist, „authentisch“. Denn man betreibt keine Blasphemie mit der Liebe, man spricht seinen Namen nicht unnütz aus, sonst: Sakrileg, Sakrileg!

„Eines Tages wird mein Märchenprinz kommen…“

Der Gott Liebe hat seine Christus-Figuren, seinen fleischgewordenen Nachkommen: es sind der Märchenprinz und die Märchenprinzessin. Da kommen sie, beachtet ihre stattliche Erscheinung, ihren sicheren Gang, ihren Charme, ihre Schönheit! Sie sind keine Menschen, sie sind Engel. Sie sind perfekt, super-begehrenswert, legendär. Werden sie sich dazu herablassen, uns ein Augenzwinkern zu schenken? Wird es uns gelingen, sie einzufangen, sie zu besitzen und uns mit ihm oder ihr und der Liebe in einer heiligen Dreifaltigkeit zu vereinigen? Werden wir ihnen so weit ähneln können um ebenso viel Aufsehen um uns erregen zu können? Damit überall und ständig die Leute niederknien und uns Liebeserklärungen machen?

Wir verehren den Märchenprinz oder die Märchenprinzessin und durch sie oder ihn verehren wir alle sozialen Normen, mit denen unsere Kultur sie ausstattet. Unsere Kultur zeichnet einen großen und starken Märchenprinzen, beruhigend und beschützend. Frau, ihn sollst du begehren! Mann, das ist das Modell, dem du folgen sollst um die Frauen verführen zu können! Unsere Kultur bietet uns eine Märchenprinzessin, die sensibel und sanft ist, schlank und glatt. Mann, träume nur noch von diesem hohlen Ideal ; Frau, eifere ihm mit Hingabe nach! Die Kleidungsindustrie, die Werbung, die Kosmetikindustrie und vor allem das Patriarchat haben mit Märchen-Prinz und -Prinzessin ihre besten Verbündeten. Welche andere soziale Norm kann sich damit brüsten, so heiß begehrt zu sein?

« I’m feelin’ blue… »

So viel Leiden wegen dieser Chimären. So viele enttäuschte Wunschträume, Fantasievorstellungen, Hoffnungen, so viel Energie, Zeit, Zittern, Ängste, Magengrummeln, Scham, so viele Tränen, so viele Tränen, so viele Tränen! Für bloße Legenden! Die Liebe, der Märchenprinz und die Märchenprinzessin sollten einfache Gespenstergeschichten sein, Mythen die als solche erkannt und bewusst gemacht wurden. Aber nein, wir wollen ja daran glauben, wir holen diese Mythen in unsere Realität, wir suchen sie ohne Unterlass, wir glauben, dass wir sie schon eines Tages finden werden. Gott existiert nicht, Eldorado auch nicht und der/die Märchenprinz(essin) erst recht nicht, das sind alles Legenden.
Warum unser Leben ruinieren, warten, enttäuschen und Tränen vergießen für diese Legenden?

Man wird mir Übertreibung vorwerfen und sagen, dass die Leute schnell verstehen, dass all diese Mythen eben Mythen sind. Ich sage, dass diese Mythen gefährlich sind. Sie wühlen munter tiefgehende Emotionen auf, sie rühren an dem Schmerzhaftesten, Intimsten, Sensibelsten, das in uns gibt: dem Ego, den Gefühlen, dem Bedürfnis nach Anerkennung, den Verlustängsten… Sie rufen Abhängigkeiten hervor, Hass, Krämpfe, Depressionen. Sie stiften zu Belästigungen, Selbstmorden und Totschlag an. Und selbst ohne so weit zu gehen, verbringen so viele Leute ihre gesamte Jugend damit, zum Beispiel felsenfest an die Liebe zu glauben und deshalb zu leiden; sie können damit schließlich klarkommen, aber jahrelang unvermeidliche Folgeschäden davontragen. Eine ganze Jugend lang leiden ist schon zu viel, sogar schon ein einziges Jahr leiden ist zu viel. Hören wir auf damit, den Glauben an den Märchenprinz und die Märchenprinzessin zu nähren. Warten wir nicht auf das „wenn wir groß sein werden, werden wir’s verstehen“ sondern helfen wir uns schon jetzt gegenseitig, unabhängig in Gefühlsbelangen zu sein und in uns zu ruhen

Weiterlesen: Teil 2: Liebeskitsch

Originaltext: La culture de l’amour von ‚Collectif‚, Ersterscheinung August 2003. Original in HTML-Version, PDF-Version. — Übersetzung  aus dem Französischen von Chantilly